Vernetzt, vernetzter, am einsamsten

18. Oktober 2021 Annett Schpeniuk


Einsam trotz permanenter Erreichbarkeit?

Yogis ziehen sich gerne zurück. Sie haben erfahren, dass man sich so selbst besser kennenlernen kann, der Geist ruhiger wird und die Gedanken sich leichter sortieren lassen. Diese Form des Alleinseins, das „Mit-sich-sein“ wirkt entspannend und ist vor allem frei gewählt.

Doch was ist mit der nicht frei gewählten Einsamkeit?

International werden Krankheiten klassifiziert. Unter dem Code Z55 – Z65 in der ICD10 werden Gesundheitsrisiken unter anderem aufgrund von psychosozialen Umständen aufgeführt. Einsamkeit hat den Code Z60.

Die WHO hält Einsamkeit für so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag oder Alkoholmissbrauch und doppelt so schädlich wie Fettsucht. Das Sterberisiko steigt um fast 30%. Einsamkeit ist wie ein Krebsgeschwür, das lange Zeit schmerzfrei bleibt, aber irgendwann voll zuschlägt.

Wann sprechen wir von Einsamkeit? Bei Einsamkeit handelt es sich um eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen gewünschter und tatsächlicher sozialer Bindung. Es ist ein subjektives Gefühl, das Auskunft über die Qualität sozialer Bindungen gibt.

Obwohl über Apps und andere Kanäle permanent erreichbar und so vernetzt wie noch nie, scheinen vor allem unsere Jugendlichen einsamer denn je. Das hört sich widersprüchlich an, wird aber durch viele Studien bestätigt. Wie sieht sie aus die Lage der jungen Menschen zwischen Instagram, TikTok, Games, Praktikum und Selbst-Darstellung, immer unter Datenbeschuss, immer am Handy zwischen den sozialen Medien, die zu einem Tool der Entfremdung geworden sind? Wieso sind Likes oftmals wichtiger als Verabredungen und Gespräche außerhalb der Medien?

Jugendlichen ist wahrscheinlich noch nicht klar, wie wichtig es ist mit anderen in natura zu interagieren und sich auszutauschen. Doch es steht fest: der Mensch kann nicht auf den Menschen verzichten, er braucht tiefe und starke Verbindungen im „echten“ Leben.

„Lost“ war das Jugendwort 2020. Woher kommt die Schwierigkeit sich sozial auszutauschen, sich intim verbunden zu fühlen und miteinander zu sein. Wie kann man sich einsam fühlen, obwohl man unter Menschen ist. Loneliness ist allgegenwärtig. Vielleicht ist es die schrankenlose Datenflut, die polarisiert und zersplittert.

Der gesellschaftliche Alltag setzt oft nicht mehr auf Bindung und Verantwortung, sondern auf schnelle Ergebnisse. Die Überzeugung, dass sich das menschliche Dasein lediglich an ihrer ökonomischen Realität manifestiert, hat auch unsere Jugendlichen schon erreicht und macht sie blind für die anderen Wirklichkeiten unseres Seins.

Viele reagieren mit Rückzug von Überforderung, Komplexität, Beschleunigung und Zerteilung.

Einsamkeit ist natürlich und tritt bei jedem immer mal wieder auf. Gefährlich wird es, wenn dieser Zustand dauerhaft ist, wenn sie erzwungen ist, man sich ohnmächtig fühlt da wieder rauszukommen.

Die Pandemie hat die Situation zusätzlich verschärft. Einsamkeit hat schon viele Leben gekostet. Müssen wir die Einsamkeit als Preis für den Individualismus in Kauf nehmen? Der Song von Beyoncé „Me, myself and I“, gedacht als Einladung zur Selbstermächtigung und Selbstliebe, ist zu einer Zustandsbeschreibung vieler geworden.

Wenn wir immer nur von Individualismus und Unabhängigkeit und Autonomie oder Autarkie sprechen, müssen wir Werte, wie Beziehungs- und Bindungsfähigkeit, Solidarität und Vertrauen, die uns als Menschen, als soziale Wesen ausmachen mehr kultivieren. Das Bedürfnis nach Nähe ist nicht nur systemrelevant, sondern ein Zeichen von Lebendigkeit.

Vertrauen in das, was hält, zu stärken, ist heute wohl die größte Aufgabe im Yoga. Dieses Vertrauen in uns selbst zu stärken, egal ob wir uns in komplexe Asanas bugsieren oder einfach nur im „Kind“ unserem Atem lauschen.

Studien zeigen, dass Yoga in der Gruppe glücklicher macht als Yoga mit sich allein. In der Gruppe kann man gemeinsam üben, sich selbst als positiv wahrzunehmen. Wir haben verlernt uns selbst positives Feedback zu geben und sind von der Anerkennung und der Bestätigung durch andere abhängig geworden. Yoga lehrt uns Kraft und Stärke aus uns selbst heraus mit Berührung unserer Seelen. So entstehen Tiefe und eine langfristige, beständige Wirkung.

Viele, die sich über einen langen Zeitraum einsam fühlen, verlieren förmlich ihren Körper. Yoga hilft den Körper wieder wahrzunehmen, zu spüren.

Yoga ersetzt auf keinen Fall eine Therapie. Yoga wirkt unterstützend und auch vorbeugend allein durch die Auseinandersetzung mit sich selbst. Im Yoga üben wir auf der Matte und anschließend im Leben was man braucht, um eine Krise zu bewältigen: „angstfreie Zuversicht und innere Stabilität“.