Vom Glück geliebt zu haben

01. November 2021 Annett Schpeniuk


Kann Yoga helfen den Verlust eines geliebten Menschen ins Leben zu integrieren?

„Trauer ist eine Gemütsverfassung, die durch einen schwerwiegenden Verlust hervorgerufen wird.“ So, oder ziemlich ähnlich wird „Trauer“ meist beschrieben.

Für mich ist Trauer zum “Glück geliebt zu haben“ geworden. Im Laufe meines Lebens riss der Tod wiederholt Menschen aus meinem Leben. Doch kein Verlust hat mich so tief in die Trauer geworfen wie der Tod meines Lebensgefährten. Der Boden unter meinen Füßen war plötzlich weg, den konnten nicht mal meine vier Kinder unter mir festhalten. Urplötzlich war da nur noch Stille, eine gähnende Stille des Nichts und ein Gefühl von Überflüssigkeit, was kaum zu ertragen war.

Hat mir Yoga in dieser Zeit geholfen? Hätte mich damals jemand gefragt, wäre wohl meine Antwort: „Was soll Yoga schon ausrichten können?“ gewesen. An Asana-Praxis war gar nicht zu denken, mein Körper war tonnenschwer und schien dem Schmerz als Bühne zu dienen. Es gab den Moment in dem mir schlagartig klar wurde, dass der Platz im Bett neben mir dauerhaft leer bleiben würde, keine Nachrichten mehr über den Tag verteilt eintrudeln, nie wieder Berührungen ausgetauscht werden. Ich habe mich oft gefragt, warum ich in diesem Augenblick nicht durchgedreht bin. Heute kann ich sagen, Yoga hat mich davor bewahrt. Auch wenn ich damals noch nicht sehr lange Yoga praktiziert hatte, durfte ich schon einige „Yoga-Geschenke“ einsammeln. Manche konnte ich nur noch nicht bewusst auspacken.

Mit Yoga lernte ich mich selbst zu lieben. Aus dieser Erfahrung heraus konnte ich neue Wege der Liebe zum Verstorbenen entdecken.

Die Beobachtung meines Atems gab mir eine positive Sicht auf die Vergänglichkeit. So wie der Einatem kommt, verweilt, sich in den Ausatem wandelt, so ist es wohl auch mit dem Leben. Der Moment, in dem sich das Leben in den Tod wandelte, ließ zunächst jede Aussicht auf Zukünftiges in den Hintergrund rücken, war aber als Idee durch die wiederholte Atembeobachtung schon in mir.

Die Aufforderung allein da weiterzumachen, wo das Leben mit meinem Partner aufgehört hat, kam mir unglaublich rücksichtslos vor. Auch hier half, wenn oft unbewusst, Yoga weiter.

Die Trauer wurde vom Gegner zum Partner. Selbst wenn meine Meditationspraxis damals noch nicht sehr regelmäßig war, hatte ich die Ahnung, dass es darum gehen könnte mich selbst zu erkennen. Nun stellten sich mir ganz krass und klar die Fragen: „Wer bin ich ohne meinen Partner“, „Ist mein Dasein lebenswert, wenn mir doch alles genommen werden kann?“, „Welche Gedanken legen mich lahm und verhindern die Verbindung zu mir selbst.“ In der Trauer erkannte ich, dass es um Klarheit und einer gewissen Freiheit und Gleichgewicht im Geist geht. Diese Erkenntnis hat mich auf meinem Weg ein ganzes Stück vorangebracht.

Die Qualität von offenem Gewahrsein kannte ich auch aus meinen Meditationen. Ich durfte also jedes Gefühl, jede Stimmung, jeden Gedanken zulassen. Diese Erlaubnis tat unheimlich gut.

Bevor ich Yoga praktizierte, kannte ich das Wort „Selbstwirksamkeit“ gar nicht. Ich kann bewusst und achtsam selbst etwas für mein Wohlbefinden tun? Also Kriya Yoga im Sinne von „das kann ich schaffen“. Viel später erst habe im Yoga Sutra gelesen, dass uns Tapas (Wille), Svadhyaya (Selbstbeobachtung) und Ishvara Pranidhana (Hingabe) Kompass sein können, Herausforderungen im Leben zu meistern. Der Samen war schon durch meine Praxis gelegt.

In den ersten Wochen konnte ich zwar kein „Asana – Yoga“ praktizieren, aber ich bin bald wieder gejoggt. Die Dynamik im Körper, im Kreislauf und der Atmung haben mir gezeigt, dass es weitergeht. Es geht weiter, und zwar im Rhythmus, mal ist es der Rhythmus von Herz und Atem, mal der von Tag und Nacht oder den Jahreszeiten, und immer vergeht etwas. Meine Yogaerfahrung hat mich bewusst joggen lassen, hat den Atem fließen lassen, die Starre aus dem Körper geholt und nach und nach den Geist beruhigt.  

Yoga erlaubte mir den Weg der aktiven Trauer zu gehen, um nicht ins bodenlose zu stürzen oder in die Ignoranz meines Schmerzes. Und nicht zuletzt Shradda, ein tief verankerter Glaube in mir, der mich handeln lässt, meine Erinnerung schärft und die Sinnhaftigkeit meines Lebens im Blick behält, damit mein Leben oder Tod nicht beliebig sein werden.

Wellen der Trauer überrollen mich auch heute noch, bestimmte Gesten anderer Menschen lassen mein Herz holpern in einer freudigen Erwartung, die nicht in Erfüllung geht. Aber manchmal hüllen mich diese Wellen als flauschige Decke ein, unter der ich das Glück geliebt zu haben genießen und mein Herz, in dem die Speerspitze des Verlustes immer noch steckt, umarmen und eine neue Liebe zulassen darf.