Eile mit Weile?
Ich eile, also bin ich?

10. September 2021, Annett Schpeniuk


Mach mal langsam!

Langsamkeit hat einen störenden Beigeschmack, sowie auch die gegensätzliche Ungeduld.

Wir leben in einer Zeit, die auf Effizienz ausgerichtet ist. Von uns wird erwartet immer geistig präsent zu sein, auf jede Frage sofort eine Antwort zu wissen. Handys und Laptops ziehen das Tempo weiter an. Doch andererseits ist uns allen der Satz: „Die letzten werden die ersten sein.“, geläufig. Wahrscheinlich landen wir sogar zielgenauer und effektiver. Und manchmal bedarf eine Frage gar keiner schnellen Antwort, sondern Zeit zum Gedeihen.

Zeit ist unser wichtigstes Gut, also ist es an der Zeit über den Umgang mit unserer Zeit nachzudenken. Wir werden immer älter und doch wird unsere Zeit scheinbar immer knapper. Das hat oft zur Folge, dass Essen geschlungen statt genossen wird, im Museum, statt zu schlendern, von Bild zu Bild gehetzt wird und uns die Möglichkeit genommen, kleine Einzelheiten zu entdecken.

Wir gönnen uns nicht mehr die Zeit zum Fühlen, weder uns selbst noch andere oder die Natur. Langsamkeit kann auch Angst machen, gerade wenn es etwas zu spüren gibt, zu dem wir noch nicht bereit sind.

Michael Ende ahnte es schon vor vielen Jahren, als er Momo ausgerechnet eine langsame Schildkröte gegen die grauen Männer zur Seite stellte.  Jegliche Beziehungen zwischen Menschen bedürfen einer gewissen Langsamkeit, nur so lernen wir uns kennen, indem wir uns Zeit zum Zuhören nehmen, was zu mehr Nähe führt.

Im Yoga versuchen wir die die „Geisteswellen“ zu verlangsamen ("Yogas citta vritti nirodah“.)  Sollen wir weniger oder langsamer denken? Es würde schon mal genügen, wenn wir weniger Geschichten im Kopf stricken oder weniger interpretieren, was der andere nun schon wieder gemeint habe, als er …, oder weniger hadern mit unseren Entscheidungen. Schon dadurch würde wieder Energie frei, die wir sinnvoll einsetzen könnten.

Patanjali erinnert uns bereits im ersten Vers: „Atha yoga anuasanam.“  Das Anfangswort "Atha" bedeutet: JETZT. Jetzt beginnt Yoga, nicht vorher, nicht nachher, sondern jetzt. So findet auch das ganze Leben JETZT statt. Einsichten oder Veränderungen können wir also auch nur im Jetzt erfahren. Im Yoga verankern wir unser Bewusstsein im jetzigen Moment, wir versuchen hier zu bleiben und uns weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft zu befassen. Unser Atem und unser Körper sind die besten Anker für die Gegenwart, ständig in Bewegung, im Wandel. Nichts bleibt, alles verändert sich. Diese stetige Veränderung können wir wahrnehmen, wenn wir unseren Körper und unseren Atem beobachten und spüren. Unsere Wachheit richtet sich also nach innen, ganz im Sinne von Pratyahara. Das Außen tritt in den Hintergrund, dafür aber Körper und Atem in den Vordergrund.

Wie können wir als Yogalehrende unseren Unterricht in Anlehnung an diese Idee gestalten, ohne dass er langweilig wird?

  • Ermuntert eure Schüler*innen Atem und Bewegung zu synchronisieren (die Bewegung wird genau so lange ausgeführt, wie die jeweilige Atemphase andauert, sie endet weder vorher noch nachher)
  • probiert die Bewegung nur in der jeweiligen Atempause stattfinden zu lassen
  • dreht den Atem einfach mal um; das wird spannend (zum Beispiel in Katze / Kuh)

Je langsamer wir die Yogapraxis gestalten um so präziser werden die Haltungen. Zugleich können wir die Asana selbst besser erforschen, der Atem wird müheloser und leichter. Somit fühlen wir uns nach der Yogapraxis frischer, beschwingter und aufgetankt.

Allerdings ist Yoga kein Reparaturauftrag, den wir wöchentlich einmal in Anspruch nehmen, sondern eine Übungspraxis, die wir in den Alltag integrieren möchten. Also mehr Monotasking, Mut zur Langsamkeit, Slow Food, mehr Rückzug statt Aktionismus, mehr gehen statt fahren und vor allem viel Natur.

Natürlich ist oft auch einfach nur Eile geboten; zum Beispiel, wenn jemand in Not ist oder Hilfe bedarf, ein Unwetter droht oder der Bus gleich kommt.