Achtung: Gewalt hat viele Gesichter.

15. Juli 2021, Annett Schpeniuk


Hinsehen und Handeln sind gefragt!

Grob gedacht, sind wir wohl alle gegen Gewalt. Prügeln und Krieg werden übergreifend verurteilt, doch das ist wenig aussagekräftig, weil es zu pauschal ist und wir selbst immer wieder Zeuge von Ausnahmen werden.

Gewalt hat viele Gesichter und ist fast alltäglich geworden. Bekannt sind vor allem die physische, die psychische, sexuelle oder sexualisierte Gewalt. Weniger bekannt sind in dieser Auseinandersetzung die finanzielle (z.B. Ausbeutung und Armut) und die strukturelle (z.B. Altersdiskriminierung und Rassismus) Gewaltausübung. Zudem sollten wir nicht vergessen, dass unsere Erde unter der Last der Gewalt, die wir Menschen ihr antun, ächzt.

Eine sehr hinterhältige Form der Gewalt ist für mich die Feigheit bzw. die Hinnahme von Gewalt durch Nichtstun und ihr dadurch freie Bahn zu gewähren. Oft wird sie sogar unter dem Deckmantel der Sanftmut zur Schau getragen. Man muss nicht mal unbedingt mitmobben, zusehen ist schon gewaltvoll genug. In meinen Augen macht sich jeder Mensch, der es verpasst, durch Intervention Leiden zu mindern, mitschuldig. So überrascht es nicht, dass Gandhi kein Pazifist war: „Meine Gewaltlosigkeit erlaubt es nicht, vor der Gefahr wegzulaufen und seine Lieben ohne Schutz zu lassen. Wenn die Wahl zwischen Gewalttätigkeit und feiger Flucht zu treffen ist, dann ziehe ich die Gewalttätigkeit vor.“

Mir scheint, dass das Gegenteil von Gewalt somit eigentlich nicht Gewaltlosigkeit, sondern Gerechtigkeit (in jeglicher Hinsicht) heißen müsste.

Jede Situation erfordert eine neue Entscheidung. Den Maßstab hierfür bilden die eigenen Wertevorstellungen und das eigene Verantwortungsbewusstsein sowie zuweilen die persönliche Risikobereitschaft.

Die Geschichte, auch die jüngere, beweist, dass aktives gewaltfreies Handeln sich lohnt. Als Antrieb hierfür sehe ich das Grundbedürfnis aller Menschen nach dem Wunsch, in Frieden und gegenseitigem Respekt miteinander leben zu dürfen. Der Fall der deutschen Mauer, das Ende der Apartheid in Südafrika oder auch die Charta 77 unter Vaclav Havel sind ermutigende Beispiele, dass sich friedfertiges Handeln durchsetzen kann, auch wenn es oft wenig medienwirksam und im Stillen stattfindet.

Als Entscheidungshilfe hat Patanjali uns Yogis einige ethische Empfehlungen, einen Verhaltenskodex mit auf den 8-gliedrigen Pfad gegeben, an dessen Ende ja bekanntlich die „Erleuchtung“ auf uns wartet. An erster Stelle dieses Verhaltenskodexes steht Ahimsa, die „Nichtgewalt“. Ahimsa meint einen behutsamen, wohldurchdachten Umgang mit allem, was uns umgibt.

Ein konkretes Beispiel, wie wir „Nichtgewalt“ ganz praktisch leben können, geben uns die Yoga Sutren in Form der liebenden Güte (Maitri oder Metta) mit auf den Weg. Die Bhagavad Gita beleuchtet ein ethisch-moralisches Dilemma und hebt besonders hervor, dass es um die Handlung und eigene Verantwortung geht. Es gibt keine universelle Moral. Die Moral eines Ajurna, der in den Krieg zieht, ist eine andere als die eines Software-Entwicklers in Delhi, der nicht genug zu essen hat.  Gandhi löste den Widerspruch zwischen Krishnas Lob von „Ahimsa“ und dem Rat in den Krieg zu ziehen, indem er die Gita nicht als realen Kriegsplatz, sondern als „inneren Krieg“ interpretiert, für den er auf Gewaltlosigkeit statt auf Säbelrasseln setzt.

Unsere großen Philosophen wie Kant oder Aristoteles lösen das Problem der Entscheidungsfindung leider auch nicht endgültig für uns. Kant verpflichtet mit dem „kategorischen Imperativ“ die Menschen, ihre Handlungen dahingehend zu überprüfen, ob sie auch dann, wenn alle danach handeln würden, noch erstrebenswert sind. Je nachdem wie man Kant interpretiert, könnte man zu dem Schluss kommen, dass allgemeingültige „Gesetze“ ausreichen würden. Jedoch kann sich so keine eigene Moral entwickeln, da man sich ja nur an die Gesetze halten muss, um zu glauben, dass man auf der richtigen und sicheren Seite sei. Aktives Handeln wird nicht geübt. Wir kennen das von den 10 Geboten, die letztendlich mehr Verbote aussprechen als Handlungen anregen.  Aristoteles ist der Meinung, dass sich eine GUTE Handlung aus der inneren Haltung ergibt. Diese kennzeichnet sich durch das maßvolle Ausleben der eigenen inneren Tugenden. Eine gute Handlung zeichnet zudem ihre Sinnhaftigkeit aus und muss aus einem guten Antrieb heraus geschehen. Jesus hingegen gibt uns „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ an die Hand. Hier besteht das Problem darin, dass wir uns selbst oftmals weniger lieben als die anderen. Der Hippokratische Eid formuliert zwar klar: "... vor Schaden bewahren.", aber an anderer Stelle fügt er hinzu: "wir werden immer daran denken, dass die Medizin eine Wissenschaft und Kunst zugleich ist" Worin liegt nun die Kunst? Den eventuellen Schaden herauszufinden und hoffentlich im Sinne des Patienten zu entscheiden.

Helfen diese Ausführungen im täglichen Leben? Denn selbst Udo Jürgens besingt im „Ehrenwerten Haus“:  "es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt." Oder wenn es im Erlenkönig direkt zur Sache geht: „und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“

In der Theorie scheint Ahimsa völlig klar zu sein, doch praktisch? Praktisch und immer wieder neu, müssen wir entscheiden, wann Gewalt angebracht ist und wann nicht; was wir tun oder lieber lassen sollten. Wann Regeln von allen Beteiligten aufgestellt und eingehalten werden sollten.

Wie können wir nun konkret gewaltloser leben?

Wir können zum Beispiel auf einen privilegierten Lebensstil verzichten, der meist zu Lasten der Schöpfung oder anderer Menschen geht. Mal ganz davon abgesehen, dass folgende Generationen ihn sich wahrscheinlich nicht werden leisten können. Unsere Erde freut sich über nachhaltige, biologische Ernährung und unser persönlicher GEWALTiger Fußabdruck wird nicht noch gewaltiger.

Auch unsere Partnerschaft gewinnt an Tiefe, wenn wir aufhören, den anderen verändern zu wollen, einzuengen oder zu manipulieren. Schließlich kann dieser Umgang als Form von Gewalt gelten.

Wir Yogis können unsere eigene Asana Praxis beobachten. Treiben uns die gelenkigen Mattennachbar*innen auf die Palme, sodass wir uns in der Übung über unsere Grenzen zwingen und wir uns selbst noch Gewalt antun oder können wir uns gütig so annehmen, wie unser Zustand eben gerade ist und   beobachten lieber unsere Grenzen?

Wie oft denken wir schlecht über uns oder andere, sind neidisch, schimpfen über die anderen Auto- oder Fahrradfahrer*innen? Unser Gehirn ist da ziemlich einfallsreich und der Strom unfreundlicher Gedanken scheint nicht abzuebben. Wir könnten ein inneres Stoppschild kultivieren, dass uns erinnert:

  1. Innehalten und wahrnehmen
  2. Nachdenken und Abwägen
  3. Neue Gedanken probieren

Es lohnt sich!  Wir werden dadurch mutiger, aufrichtiger, umgänglicher, klüger, gerechter, tapferer und besonnener.