#Svadhyaya (Selbststudium)

11. April 2023 Annett Schpeniuk


 „Wie zwei goldene, in engster Freundschaft auf ein und demselben Baum thronende Vögel wohnen das Ego und das Selbst in demselben Körper. Das erstere isst die süßen und sauren Früchte vom Baum des Lebens, während das Letztere innerlich losgelöst zusieht.“ (Mundhaka Upanishad 3.1.1)

Was ist gemeint? Das eigene Selbst studieren oder selbst(ändiges) Textstudium?  

Tage, die einen terminfreien Start bereithalten, beginne ich mit dem Lesen von yogischen Texten. Viele Passagen verstehe ich nicht oder nur ansatzweise. Nicht selten frage ich mich, warum ich es denn eigentlich weiterhin tue obwohl mir einiges verschlossen bleibt. Wahrscheinlich ist Svadhyaya die Antwort auf diese Frage.

Svadhyaya ist eine der fünf Nyamas auf dem Weg des Raja Yoga nach Patanjali. Die Nyamas kann man als eine der Hilfestellungen betrachten, um ein aufrichtiges, an ethischen Werten orientiertes, fried- und freudvolles Leben in spiritueller Erfüllung führen zu können.

Beide Interpretationen von Svadhyaya sind wichtig für unseren persönlichen Yogaweg und unser Leben an sich. Quellen dazu lassen sich leicht finden.

„Das Selbststudium führt zu einer Verbindung mit Bildern oder Themen, die uns auf den spirituellen Weg lenken können“ (PYS 2.44) Wer sich also fortwährend bemüht zu lernen, um das Leben zu verstehen, wird auch die eigene Aufgabe im Leben verstehen.

„Lasst uns immer die heiligen Schriften studieren, dass darin enthaltene Wissen anwenden und entsprechend handeln". (Katha Upanishad 1.3)

Die Interpretation, dass wir uns selbst studieren sollten, ist modern. Wahrscheinlich geht sie auf Iyengar und Desikachar zurück. Doch was ist dieses Selbst denn? Wir unterscheiden das spirituelle Selbst (Atman oder Purusha) und das empirische Selbst.

Das spirituelle Selbst wird in der Kena Upanishad als das Unbeschreibliche charakterisiert, das weder durch Worte noch durch Gedanken erfasst werden kann. Es wird als dasjenige umschrieben, das Sehen ermöglicht, aber selbst nicht gesehen werden kann, das hört, aber selbst nicht gehört werden kann, das den Geist erfüllt und alle Sinne kontrolliert, aber selbst unkontrollierbar und unergründlich ist.

Das Selbst kann demnach nicht durch die materielle Welt oder äußere Objekte definiert werden, sondern kann nur durch direkte Erfahrung erkannt werden. Es ist das, was hinter den Gedanken und Empfindungen liegt und in jeder lebenden Seele vorhanden ist.

Die Bhagavad Gita stellt es so dar: "Das Atman ist unzerstörbar, unbeschreiblich und unveränderlich. Es ist ewig und immerwährend, alles durchdringend, unvergänglich, unveränderlich und unbeweglich." (B.G. 2.24) Im weiteren Verlauf wird betont, dass das Selbst nicht durch das Sterben des Körpers oder durch äußere Einflüsse zerstört werden kann, sondern dass es ewig existiert. Krishna, der zentrale Charakter der Bhagavad Gita, erklärt, dass das Selbst das wahre Wesen jedes Individuums ist und dass es die Ursache für alle Gedanken, Emotionen und Handlungen ist.

Die vedischen Schriften lehren uns, dass wir über Selbstreflektion, Meditation, Studium der Schriften oder mit der Hilfe eines Lehrenden unser Selbst erkennen und erfahren können. Aus der Erkenntnis des Selbst werden wir uns bewusst, dass wir mehr als Körper oder Verstand sind, nämlich das unsterbliche Selbst. Dadurch werden wir von den Begrenzungen des Körpers und des Verstandes befreit und erleben inneren Frieden und Freiheit von Leid. Haben wir erkannt, dass wir unabhängig von äußeren Umständen glücklich und zufrieden sein können, erfahren wir Erfüllung von innen, aus der Verbindung mit dem eigenen Selbst. Zu guter Letzt werden wir aus der Erfahrung des Selbst von den Auswirkungen der Karma (Handlungen) befreit und können aus dem Kreislauf der Wiedergeburt aussteigen.  

Das empirische Selbst hingegen bezieht sich auf das Selbst, das durch unsere Erfahrungen und Interaktionen mit der Welt geformt wird. Es ist das Selbst, das wir als Individuum in der physischen Welt wahrnehmen und das durch unsere sozialen, kulturellen und persönlichen Erfahrungen geprägt wird. Das empirische Selbst umfasst unsere Identität, Persönlichkeit und unser Verhalten, sowie unsere Gedanken, Emotionen und Überzeugungen. All diese Erscheinungen verändern sich oder vergehen sogar, sind demgemäß nicht von Dauer. Wogegen das spirituelle Selbst wie beschrieben unveränderbar ist. Alles, was nicht von Dauer ist, beunruhigt uns Menschen.

Das empirische Selbst ist von Person zu Person unterschiedlich, da jeder Mensch durch einzigartige Erfahrungen geprägt wird. Das empirische Selbst bietet nur eine begrenzte Sicht auf das eigentliche Selbst (Atman).

Das spirituelle Selbst und das empirische Selbst sind laut der vedischen Lehren eng miteinander verbunden und interagieren auf verschiedene Weise miteinander. Das spirituelle Selbst wird oft als die höhere Natur des Menschen beschrieben. Wenn wir uns mit unserem spirituellen Selbst verbinden und unser Bewusstsein erweitern, können wir unser empirisches Selbst transformieren und unsere Persönlichkeit, Identität und unser Verhalten ändern. Andererseits kann das empirische Selbst auch dazu beitragen, das spirituelle Selbst zu entwickeln. Durch unsere Erfahrungen und Interaktionen in der physischen Welt können wir wichtige Lektionen lernen und unser Verständnis des Selbst und der Welt erweitern. Zum Beispiel können schwierige Erfahrungen dazu beitragen, dass wir uns auf unser spirituelles Selbst besinnen und uns auf die Suche nach tieferem Verständnis und höherer Bewusstheit begeben.

Der Begriff der Seele ist in diesem Kontext eher kritisch zu betrachten. Die Vorstellung von der Seele variiert je nach kulturellem, religiösem und philosophischem Kontext. Die Seele aus westlicher Sicht hat eine Absicht (Seelenplan). Atman hat weder eine Absicht noch einen Plan. Atman hat keine Aufgabe, es sieht, was es vom empirisches Selbst vorgelegt bekommt.

Wie kann die Praxis von Svadhyaya aussehen?

Aus traditioneller Sicht studiert man unter anderem Texte, die von Moksha (Erlösung) oder der Erlangung der Freiheit von Anhaftungen handeln. Dazu gehören die Upanishaden, die Bhagavad Gita oder auch das Yoga Sutra von Patanjali. Das Rezitieren von Mantras (gemeint ist das bewusste Rezitieren, nicht das nebenbei Chanten) wird als verbales Kriya Yoga praktiziert. Es führt zur Reduzierung der Kleshas. (Hindernisse aus dem empirischen Selbst)

Die moderne Sicht des Selbststudiums sieht das Beobachten der citta vrittis (Bewegungen des Geistes in Form von Gedanken, Emotionen, Wahrnehmungen oder Erinnerungen) vor. Gemeint ist das Wahrnehmen unserer Reaktionen auf die Welt, das Hinterfragen unserer Lügen, unseres Haben-wollens, unseres Umgangs mit unserer Sexualität. Es bezieht sich aber auch auf den Blick auf das, womit wir uns nähren, disziplinieren oder zufrieden geben (Niyamas), welche mentalen Hindernissen dominant sind (Faulheit oder Trägheit z. Bsp.) Im Großen und Ganzen sollen wir uns also mit uns vertraut machen.

Was haben wir davon?

Durch das Studium von Texten erlangen wir Wissen über das, was man vielleicht selbst erfahren möchte. Weltliche Gedanken treten in den Hintergrund und das Interesse an spirituellen Themen entsteht. Textstudium beruhigt den Geist, der innere Frieden, die Zuversicht und die Motivation auf diesem Weg zu bleiben werden gestärkt. Nach und nach wird sich die eigene Sprache ändern, weil Weisheitstexte anders formuliert sind. Sie sind frei von Werbung, wohlwollend, friedlich und bildreich formuliert und enthalten keine To-do-Listen. Konzentriert bei einem Text oder Mantra zu bleiben stärkt unsere Geisteskraft und Fähigkeit zu unterscheiden.

Über das Vertraut Werden mit uns selbst, erfahren wir nicht nur mehr über unsere Bedürfnisse, wir erlangen Bewusstsein über unser Verhalten, unsere Gefühle, unseren Körper, unsere Emotionen, unsere Energien, Reaktionen und Prägungen. Wir erlangen Wissen was zu unserem Denken, Fühlen und Agieren führt, können feststellen, ob wir feststecken und Hilfe brauchen, können unsere Handlungsspielräume ausloten. Wir erfahren aber auch eine innere Kraft von Ruhe abseits des Alltagsgeistes, die zu mehr Selbstbewusstsein („ich bin mir meiner selbst bewusst.“) führt. All diese Beobachtungen führen letztendlich zu der Erkenntnis, dass unser empirisches Selbst immer in Bewegung ist.

Bei all diesen Beobachtungen sollten wir aber nicht vergessen, dass die Praxis von Svadhyaya nicht dazu führen soll, unser Ego zu vergrößern oder in einem Zwang von Selbstoptimierung endet. Es geht nicht um das Erreichen eines von außen festgelegten Standards.

Es geht darum zu erkennen was uns schadet oder abhält ein zufriedenes und friedliches Leben zu führen. Zudem kann das Beobachten der eigenen Verhaltensweisen einen wohltuenden Ausgleich zu den oft belanglosen Sorgen oder Gedanken um sich selbst bilden.

Lange Rede, kurzer Sinn: Das Lesen von Texten ist ein äußerst sinnvoller Start in den Tag!