Gefangen zwischen Anhaftung (Raga) und Abneigung (Dvesha)

28. Oktober 2023 Annett Schpeniuk


"Ich habe viele Katastrophen in meinem Leben erlebt, von denen die meisten niemals eingetreten sind." (Mark Twain)

Wie viele von uns können von sich sagen, dass sie sich auch nur einen Tag lang nicht mit Gedanken oder Gefühlen, die Unbehagen hervorrufen, auseinandergesetzt haben?

Wir ängstigen uns vor Versagen und Scheitern, ärgern uns oder sind ungeduldig, sorgen uns um die Zukunft und schleppen Enttäuschung vergangener Ereignisse mit uns herum. Häufig sind wir beunruhigt über oder unzufrieden mit unserem Körper, unserer allgemeinen Gesundheit, unseren Leistungen oder unseren Fähigkeiten als Eltern. Zusätzlich fegen durch diese negativen Gedanken plötzliche oder anhaltendende Gelüste: auf Süßigkeiten, einer Phantasie-Vorstellung von uns selbst oder unseren Partnern oder Kindern bzw. Verlangen auf die Malediven fliegen zu müssen oder unbedingt den gestrigen tollen Abend wiederholen zu müssen. Die Liste dieser widersprüchlichen Gedanken scheint schier endlos zu sein.

Und schlimm daran ist noch zu allem Überfluss, dass die erhoffte Befriedigung, wenn überhaupt nur kurzfristig eintritt und dann beginnt der Reigen von vorn, da der Kick in unserem Belohnungszentrum nur kurz andauert. Hinzu kommt das sich anschließende schlechte Gewissen, wenn wir uns etwas gegönnt haben, dass wir eigentlich gar nicht brauchen.

Warum fließt unser Bewusstsein in diesen nervigen unproduktiven Gedanken dahin, obwohl unser Geist doch viel nützlichere Aufgaben bewältigen könnte? Leider hat auch die moderne Wissenschaft dafür noch keine schlüssige Erklärung gefunden. Klar ist, dass Gedanken dieser Art Leid verursachen.

Zudem wird jede Menge unserer Lebenskraft verschwendet, wenn unser Geist zwischen dem, was wir mögen hin- und weg von dem, was wir nicht mögen, schwankt. Wenn wir in Vorlieben und Abneigungen verfangen sind, können wir nicht in Bestform arbeiten, uns geht das Sicherheitsgefühl abhanden und wir sind vor allem von äußeren Umständen abhängig. Laufen die Dinge in unserem Sinne, sind wir in Topform, läuft es nicht wie wir wollen, verfallen wir in schlechte Stimmung.

Wie oft sagst du: „Das mag ich, also tue ich es.“ Oder „Auf keinen Fall tue ich das, weil ich es nicht mag.“?

Mit diesen Sätzen geben wir eigentlich zu, dass uns die Hände gebunden, wir nicht wirklich frei sind. Wir hängen fest in unseren Konditionierungen das zu tun, was wir gerne tun und das zu vermeiden, was wir nicht mögen. Unser Nervensystem funktioniert irgendwann wie eine Einbahnstraße oder wie ein Auto, bei dem die Richtung voreingestellt ist.

Es ist nicht wirklich beeindruckend, wenn ein Mensch sich bei Arbeit, die er mag, verausgabt. Jemand der es schafft Arbeit, die er nicht mag, fröhlich und voller Elan zu verrichten, verdient Bewunderung.

Können wir lernen über diese Vorlieben und Abneigungen hinauszukommen und innerlich elastisch zu werden, damit uns unliebsame Ereignisse nicht umwerfen oder wir abhängig sind von unseren Vorlieben? Zum Glück müssen wir uns nicht mal selbst etwas ausdenken oder zum Therapeuten gehen. Konkrete Lösungsvorschläge bieten die bekannten yogischen Weisheitstexte:

Die Bhagavad Gita, als wichtiger Text der hinduistischen Philosophie, widmet sich in Form eines Gesprächs besonders dem Begehren (Raga)

In Kapitel 2, Vers 62-63, spricht Krishna zu Ajurna über die Gefahren der Anhaftung und wie sie die Vernunft beeinträchtigen kann:

"Allein das Nachdenken über weltliche Reize lässt Bindungen entstehen, aus diesen erwachsen egoistische Begierden. Werden diese nicht erfüllt, entsteht Zorn, aus Zorn entsteht Verblendung, was zur Verwirrung führt. Der Betreffende vergisst, was ihn diese Erfahrung gelehrt hat, was wiederum die Vernunft verdunkelt.. ."

Als Lösung wird vorgeschlagen, sich einfach daran zu gewöhnen, dass es anziehende Gegebenheiten gibt, denen man aber nicht folgt, sondern durch andere Gedanken ersetzt (2.61) Belohnt wird man dann mit ruhiger Heiterkeit und innerem Frieden (2.64)

Patanjali bzw. seine Kommentatoren widmen sich im Yoga Sutra sehr ausführlich den Leidverursachern in Form von Begehren und Abneigung

„Begierde entsteht aus freudvollen Erfahrungen. Im Zustand der Unbewusstheit ist die Sucht nach Glück unersättlich.” (YS 2.7) Zuneigung, Liebe und schöne Erfahrungen sind wesentliche Qualitäten eines Lebens. Erwecken sie aber falsche Hoffnungen unterliegen wir einer blinden Anziehung. Wir klammern an einer Annahme und sehen die Auswirkungen unseres daraus resultierenden Handelns häufig nicht. (Konsum steigert zum Beispiel die Klimakrise)

„Unglückliche Erfahrungen führen, so der Geist nicht geklärt wird, zu unbegründeten Abneigungen.” (YS 2.8) In der fälschlichen Annahme, dass jemand oder etwas schlecht für uns ist, meiden wir diesen oder jenes, wir sind nicht mehr frei in unseren Handlungen und verhindern neue Erfahrungen.

Beide Werke wurden vor sehr langer Zeit verfasst, an den Problemen der Menschen hat sich augenscheinlich wenig geändert. Vermutlich sind die meisten Probleme selbstgemacht und beruhen auf Verspannungen im Kopf. So empfinden viele sich selbst und ihr Leben aus unterschiedlichen Gründen als eng und herausfordernd.

Mögen und Nicht-Mögen hilft uns  instinktiv etwas. Und ein bisschen nach Mögen und Nicht-Mögen zu gehen, hat ja auch etwas Menschliches und kann das Leben erleichtern. Aber lasse dich davon nicht beherrschen

Frage:

In welchen Situationen bist du besonders anfällig für das Begehren oder Ablehnen?

Tipp:

Wenn du das nächste Mal intensives Verlangen oder eine starke Abneigung spürst, folge nicht spontan, sondern nimm dir eine Pause und horche in dich ob deine damit angestrebten Gefühle nachhaltiger oder kurzfristiger Natur sind.