„Die Welt ist eine Familie“: Idealvorstellung oder Herausforderung in einer komplexen Welt?

22. September 2023 Annett Schpeniuk


©Katapult

"Familie ist nicht nur ein wichtiger Teil unseres Lebens, sie ist das Leben selbst." (George Bernard Shaw)

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts galt Familie als Sicherung der Existenz. Das Zusammenleben wurde eher von wirtschaftlichen als sozialen Bindungen geprägt.

Heute steht Familie für die soziale Mitte unserer Gesellschaft. Im Normalfall übernimmt man füreinander Verantwortung, unterstützt sich und befriedigt emotionale Bedürfnisse. Schaut man sich um, findet man jedoch schnell heraus, dass es so eine Sache mit der eigenen Familie ist. Unsichtbare Elefanten, ungeklärte Geschehnisse, Geheimnisse oder unterdrückte Traumata geben sich die Klinke in die Hand. Es scheint schwierig mit der Familie zu sein. Alle wollen nur das Beste und liegen doch häufig daneben.

Die Kernfamilie können wir nicht austauschen. Unsere Eltern bleiben immer unsere Eltern, unsere Geschwister unsere Geschwister, mit all ihren Macken und Geschichten. Wir bekommen also ein großes Spielfeld von Möglichkeiten geboten Vielfalt und Offenheit zu üben.

Ist euch schon mal aufgefallen, dass fast alles im Leben Theater ist? Natürlich wollen wir immer wir selbst sein, und doch spielen wir alle im Alltag zwischen ein und zwei Dutzend verschiedene Rollen, wenn das nicht Vielfalt ist. Wie sieht unsere Rolle als Mensch im Bezug auf die „Weltenfamilie“ aus?

In diesem Bezug wäre die schönste Rolle wohl, dass wir uns gleichberechtigt einreihen als ein Teil der ökologischen Gemeinschaft auf der Erde. Dies würde die Interabhängigkeit aller Lebensformen betonen und die Verantwortung, die wir als Menschen für den Schutz und Erhalt der Umwelt haben. Wir wären Teil einer großen vielfältigen Familie von Lebewesen, die alle zusammen das Ökosystem der Erde bilden.

Doch der Mensch sieht sich lieber als Zentrum der Natur, der die Herrschaft und Kontrolle über die natürliche Welt innehat.  

"Vasudhaiva kutumbakam."

Diese Worte stammen aus der Maha Upanishad,  einem heiligen Text der Hindus, und bedeuten: "Die Welt ist eine Familie.". Diese Idee stammt aus der Zeit zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. Von Erderwärmung, Klimawandel und Pandemien war die Menschheit weit entfernt. Dennoch war es den damaligen Denkenden klar, dass jede Maßnahme, die wir ergreifen, egal wie klein oder scheinbar unbedeutend, Auswirkungen auf die ganze Welt haben kann.

Im Kern lehrt uns demnach „Vasudhaiva Kutumbakam“, dass alle Lebewesen miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Es ist eine Erinnerung daran, dass wir alle Teil derselben globalen Gemeinschaft sind.

Nur auf die Menschheit bezogen, fühle ich mich eingeladen, Unterschiede zu feiern, statt sie zu fürchten oder zu bekämpfen. Unterschiede in Herkunft oder Kultur bzw. in Lebensentwürfen bereichern die Welt der Familie im Kleinen wie im Großen, sie müssen nicht überwunden werden. Dieser Vers ruft uns auf, uns kennen- und schätzen zu lernen und Stereotype und Vorurteile abzubauen.

Dieses Konzept der „Weltenfamilie“ ist jedoch wohl zu schön und zu idealistisch, als das es einfach umsetzbar wäre.

Die Vielfalt der Kulturen, Sprachen, Religionen und Weltanschauungen führt häufig zu Missverständnissen und daraus resultierenden Konflikten.

Historische Ereignisse oder koloniale Vergangenheiten, nationale Interessen oder geopolitische Machtverhältnisse, wirtschaftliche Ungleichheit und ungleiche Verteilung von Chancen und Ressourcen stehen einer globalen Einheit scheinbar im Wege.   

Und nicht zuletzt der Eigennutz und das Selbstinteresse auf individueller und nationaler Ebene, führt zu einem Blick, der kaum noch über den eigenen Tellerrand hinausgeht, sodass Menschen und Regierungen sich auf ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen konzentrieren, anstatt sich für das Gemeinwohl und die globale Gemeinschaft einzusetzen.

Die Schwierigkeiten in der Umsetzung sehen wir aktuell sehr deutlich, wenn wir uns die politische und soziale Lage in Indien, dem Ursprungsland der Upanishaden anschauen. In der Eingangshalle des indischen Parlaments wurde als Mahnung „Vasudhaiva kutumbakam." direkt in Stein graviert.

Kehren wir lieber erstmal vor der eigenen Haustür, bevor wir uns dem großen Geschehen zuwenden:

Mögen wir also tolerant, respekt-, verständnisvoll und höflich in der eigenen kleinen Familie sein. Mögen wir offene, ehrliche Gespräche über uns oder Themen wie Gerechtigkeit, Vielfalt oder Umweltschutz führen. Mögen wir Vorbild sein, indem wir soziale Verantwortung übernehmen und Projekte aktiv unterstützen, um anderen das Leben zu erleichtern. Mögen wir nachhaltiger leben, unseren Energieverbrauch im Zaume halten, recyclen und umweltfreundlicher leben. Mögen wir uns in unseren kleinen eigenen Familien unterstützen und zusammenhalten, bedingungslos lieben und eine Atmosphäre von Sicherheit, Schutz und Zugehörigkeit schaffen.

Müssen wir dafür auf die Yogamatte?

Auf der Matte lernt es sich meistens leichter, der Raum ist so schön begrenzt.

Achtsamkeit hilft den Blick auf die eigenen Bedürfnisse zu schärfen und im Nachgang dann auch für andere. Wir werden uns eigener Vorurteile und Bewertungen bewusst und können sie in Empathie und Verständnis wandeln.

Jede Bewegung auf der Matte baut Spannungen und Stress ab, fördert das Körperbewusstsein und hilft uns, unsere eigene Gesundheit zu schätzen, was sich auf unsere Fähigkeit auswirken kann, für die Gesundheit und das Wohlbefinden anderer zu sorgen.

Ganz konkret hält Yoga auch eine Meditationspraxis der „Liebenden Güte“ bereit. Dadurch entsteht Empathie als Schlüsselkomponente für die Schaffung einer positiven und unterstützenden Umgebung für uns und andere.

 Los geht’s! oder wie das Motto des G20 Gipfel titelte „Eine Erde, eine Familie, eine Zukunft“.