"Die höchsten Fähigkeiten sind nichts ohne die stille Beständigkeit der Übung." (Johann Wolfgang von Goethe)
Üben ist der Übergang vom Wissen ins Tun
Egal was wir erreichen wollen, ohne Übung wird das nichts. Im Yoga nennen wir dieses Bemühen, die regelmäßige Übung oder auch Praxis „abhyasa“. Gewöhnlich ist das Üben nicht sehr beliebt, es wird als notwendiges Übel betrachtet.
Patanjali als Verfasser des Yoga Sutra gibt uns dieses Wort im Zusammenhang mit dem zur Ruhe kommen der Bewegungen des Geistes an die Hand, denn genau darum geht es im Yoga Sutra: „yogas citta-vritti-nirodhah“ (Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen) Wir beüben also den nirodhah - Muskel, den Muskel der inneren Ruhe. Alle Muskeln wollen beübt bzw. beansprucht werden, ansonsten bilden sie sich zurück.
Keine Kompetenz, die wir uns angeeignet haben, bleibt als „Besitz“, den wir für immer behalten. Unser sicheres Schließfach ist das regelmäßige Ausüben dieser Kompetenz.
Mit abhyasa ist die Anstrengung bzw. Disziplin gemeint, die aufgebracht wird, um zum Beispiel auf die Matte zu gehen und den Geist zu beruhigen, sei es mit Hilfe von Meditation oder einer bestimmten Art und Weise Asana zu praktizieren. Bei abhyasa geht es darum dranzubleiben, eigentlich täglich. Patanjali ist da recht deutlich. Yoga ist ein lebenslanges commitment, nicht nur ab und zu. Wenn ich wirklich etwas erreichen will, braucht es die regelmäßige Übung und Anwendung der Methoden und Mittel, die mich dabei unterstützen. Alles, was ich mir vornehme, jedes Ziel benötigt eine bestimmte Anzahl von Schritten um es zu erreichen, ansonsten komme ich über den Startblock nicht hinaus. Ohne diese Schritte komme ich meinem Ziel nicht näher, es ist das Üben, dass mich dem Ziel näher kommen lässt.
Patanjali gibt uns noch eine zweite Qualität mit auf den Weg: vairaghya. In den neueren Kommentaren zum Yoga Sutra wird vairaghya häufig mit Gleichmut übersetzt. Ich finde, dass es nicht wirklich passt, denn schaut man in die ersten Kommentare des Yoga Sutra finden wir als Erläuterung für vairaghya Losgelöstheit. Gemeint ist die Losgelöstheit von Ablenkungen. Ich lasse mich demnach nicht ablenken von Verlockungen wie netflix, Barbesuch, Restaurant oder der Couch. Ich nehme mir fest vor, dass ich nach dem Aufstehen oder vor dem Zubettgehen …. Übe.
Wichtig ist jedoch wenn wir mit abhyasa und vairaghya arbeiten genau hinzugucken wann zu viel Disziplin in Form von Härte oder Strenge zu körperlichem oder seelischen Schaden führt.
Hier hilft es sich immer wieder zu fragen: vermittelt die Praxis Empfindungen von Weite oder Enge (dukkha=Leid). In diesem Falle ist es die Aufgabe von vairaghya die Praxis weich werden zu lassen, sie so zu üben, dass sie kein Ziel hat (sich zu lösen von: "Ich muss schlanker, fitter, beweglicher oder ruhiger, gelassener werden.") Wir üben um Erfahrungen zu machen, das ist der Motor, nicht die Verlockungen von außen.
Neben abhyasa und vairaghya brauchen wir Vertrauen (shraddha). Zum einen in den Weg, den Yoga uns gibt, zum anderen Vertrauen in die Lehrenden, die uns Yoga näher bringen und natürlich Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten und Kräfte, die uns helfen an unser Ziel zu gelangen. Es bringt ja nichts, wenn wir uns irgendetwas vornehmen, und schon beim Start wissen, dass uns zum Beispiel die Zeit fehlt. Dann wird dieses Vorhaben zu einer leidvollen Erfahrung, wir fühlen uns schlecht, weil wir wieder etwas nicht hinbekommen haben. Wir geraten in einen unglücklichen Zustand, verlieren das Vertrauen in uns.
Bevor wir uns also auf einen Weg machen, gilt es zu prüfen ob diese Arten des Vertrauens vorhanden sind, die uns wie eine liebende Mutter nähren und uns durch alle Hindernisse kommen lässt. Shraddha ist die hilfreiche Kraft, die uns weitermachen, den nächsten Schritt gehen lässt. Es ist zwecklos zum Ziel zu schielen, wenn die Kraft für den nächsten Schritt in Richtung Ziel fehlt. Jeder Schritt, aber den wir schaffen, den wir weitergehen, stärkt unser Vertrauen.
Das Yoga Sutra unterstützt uns nicht nur auf unserem Yogaweg, sondern auch im Umgang mit den Alltagssorgen. denn die Qualitäten von abhyasa, vairaghya und shraddha können im Leben hilfreich angewandt werden.
Tipp zur Reflektion:
Was tust du regelmäßig, wieviel Einsatz bringst du auf, um ein gesetztes Ziel zu erreichen?
Lässt du dich leicht von außen ablenken oder lenkst dich selbst ab?